Angesichts des Fachkräftemangels hat das Land den Systemwechsel gewagt und wirbt mit einer "Rot-Weiß-Rot-Karte" um Hochqualifizierte aus Nicht-EU-Staaten
Seit sechs Monaten werden Zuwanderer über Punkte wie Beruf, Jobzusagen und Sprachkenntnisse ausgewählt
Der Andrang hält sich allerdings stark in Grenzen, denn die Kriterien sind hart und Ausländer wenig willkommen
Das muss er sein, der perfekte Ausländer: So jung, so freundlich, die Haare kurz, das Hemd gebügelt, das Deutsch fast fehlerlos, und in der Tasche den Master in internationaler Unternehmensberatung sowie einen Job bei Siemens. Stefan Lazarevski, 25 Jahre alt, Mazedonier, ist ein Zuwanderer, wie ihn sich das Wiener Innenministerium nicht schöner hätte erträumen können. Eines jener Talente, um die man sich weltweit bemüht und deretwegen jetzt auch Österreich ein wenig über seinen Schatten gesprungen ist. Stefan Lazarevski gehört zu den allerersten Inhabern einer "Rot-Weiß-Rot-Karte". Das nach den Farben der Nationalflagge benannte Dokument steht für ein neues Zuwanderungsmodell, mit dem die Regierung in Wien mehr Hochqualifizierte, Fachkräfte und Vertreter von "Mangelberufen" ins Land holen will. Seit Anfang Juli entscheidet nicht mehr eine starre Quote, welche und wie viele Nicht-EU-Bürger zuziehen dürfen, sondern ein der Lage auf dem Arbeitsmarkt angepasstes Punktesystem. Belohnt werden Ausbildung, Deutsch- oder Englischkenntnisse, Berufserfahrung - und Jugend.
Österreich versucht so, den Fachkräftemangel einzudämmen. 20 000 bis 30 000 Facharbeiter würden schon in den nächsten sechs Monaten fehlen, warnte die österreichische Wirtschaftskammer im September. Aktuellere Berechnungen gebe es auf Grund der unsicheren wirtschaftlichen Entwicklung nicht, räumt deren Migrationsbeauftragte Margit Kreuzhuber ein. Die Vergangenheit habe jedoch gezeigt, dass es "auch in schwierigeren Zeiten eine Nachfrage bei Arbeitskräften gibt, die über das Inland nicht gedeckt werden kann". Zudem müsse man handeln, bevor die Situation aus demografischen Gründen richtig akut werde. Das neue System sei so konstruiert, dass inländische Arbeitskräfte nicht verdrängt werden könnten. Als "Mangelberufe" gelten etwa jene, für die pro gemeldeter offener Stelle höchstens 1,5 Arbeitslose vorgemerkt sind. Die Liste wird jedes Jahr neu festgelegt, erstmals im kommenden Mai, also ein Jahr nach Öffnung des österreichischen Arbeitsmarktes für zehn osteuropäische EU-Länder.
Stefan Lazarevski zählt zu den "Sonstigen Schlüsselkräften". Dafür musste er nicht nur einen Job vorweisen, der seinen Qualifikationen entspricht und mit mindestens 2100 Euro brutto monatlich dotiert ist (für über 30-Jährige wären es 2520 Euro), sondern obendrein überprüfen lassen, dass keine gleich qualifizierten Arbeitslosen für seine Stelle in der Wiener Zentralosteuropa-Zentrale von Siemens in Frage kommen. Erst nachdem der Arbeitsmarktservice, also das österreichische Äquivalent der Arbeitsagentur, sein Plazet gegeben hatte, erhielt er seine "Rot-Weiß-Rot-Karte".
Gekoppelt ist sie an seinen Arbeitgeber Siemens und befristet auf zunächst ein Jahr. Behält Lazarevski für zumindest zehn der ersten zwölf Monate seinen Job als Verantwortlicher für die Budgetplanung in Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina, kann er nach einem Jahr eine "Rot-Weiß-Rot-Karte Plus" beantragen, die unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt bietet. Wäre er verheiratet, könnte seine Frau diese sofort bekommen, sofern sie elementare Deutschkenntnisse nachweist.
Über mögliche Familienangehörige hat sich der 25-Jährige aber noch nicht den Kopf zerbrochen. "Ich will jetzt erst einmal Karriere machen", sagt er, und Wien sei für ihn der geeignetste Ort, da zahlreiche Unternehmen von hier aus ihre Geschäfte mit Osteuropa und seiner Heimatregion leiteten. Bei Siemens hofft der Mazedonier, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: seine Balkan-Erfahrungen zu vertiefen, ohne auf die Weiterbildungsmöglichkeiten und Karrierechancen bei einem internationalen Großkonzern verzichten zu müssen.
Läuft alles nach Plan, könnte er bald zu einer dritten Gruppe von Zuwanderern gehören, die ganz oben auf der Wunschliste der Wiener Koalition stehen - den "besonders Hochqualifizierten". Gemeint sind Forscher oder Spitzenmanager, die zusätzliche Punkte gesammelt haben, etwa mit einem Studium in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft oder Technik), mit einer Habilitation oder einem Doktortitel, einem letztjährigen Bruttojahresgehalt von über 50 000 Euro oder auch Patentanmeldungen, Publikationen und anerkannten Auszeichnungen. Dafür genießen sie besondere Privilegien. Sie dürfen beispielsweise - genau wie ausländische Absolventen österreichischer Universitäten - ohne festes Jobangebot ins Land und haben dann sechs Monate Zeit, um eine Stelle zu finden. Darüber hinaus bekommen ihre Familienangehörigen eine unbeschränkte Arbeitsgenehmigung, selbst wenn sie kein Deutsch sprechen.
Anders als viele bisherige Änderungen in der Zuwanderungspolitik hat die - vor allem auf Drängen der Wirtschaft eingeführte - "Rot-Weiß-Rot-Karte" der Großen Koalition in Wien viel Lob eingetragen: Nicht nur die Industriellenvereinigung freute sich über einen "Wettbewerbsvorteil für Österreich", auch der Präsident der Caritas nannte das österreichische Pendant zur "Green Card" den "ersten Versuch seit 1961, Bedingungen für eine moderne Einwanderung zu schaffen", und in fast allen Medien war von "Systemwechsel" die Rede. Die Grünen kritisierten zwar den Fokus auf Hochqualifizierte und die Rechtspopulisten von BZÖ und FPÖ den fehlenden Zwang zum Deutschlernen. Die Abkehr von der Quote zugunsten eines Punktesystems stellen aber auch die Oppositionsparteien nicht in Frage. Nur die Zahl der Karten-Besitzer hält sich bislang in Grenzen. Stefan Lazarevski war einer der ersten, dem sie überreicht wurde, in der Staatsdruckerei und von der Innenministerin höchstpersönlich. Inzwischen wurden laut Innenministerium 494 Karten ausgestellt. 391 davon gingen an Schlüsselkräfte, für deren Aufgaben kein passender Bewerber in Österreich zu finden war. Besonders Hochqualifizierte gibt es bisher nur 26. Überaschenderweise kommen die meisten Karten-Inhaber aus den USA (57), gefolgt von Bosnien-Herzegowina (55), Kroatien (53), Russland (50) und Kanada (38).
Eine mögliche Erklärung dafür lieferte im September eine Zwischenbilanz des Arbeitsmarktservices (AMS). Demnach bekamen weder Forscher noch Krankenpfleger die meisten Karten, sondern Sportler. Sie führten mit mehr als 18 Prozent der positiv beurteilten Karten-Anträgen (48 von 259) deutlich vor den Bereichen Information und Kommunikation sowie Banken und Versicherungen. Laut Recherchen der Zeitung "Kurier" hat allein der Eishockeyclub Red Bull Salzburg "Rot-Weiß-Rot-Karten" für zehn Kanadier beantragt. Sportler gelten als "Schlüsselkräfte" und bekommen genau wie Musiker auch ohne formellen Berufsabschluss Punkte für ihre speziellen Talente, für Profisportler und Trainer gibt es weitere Zusatzpunkte. Anfang November machten die Sportler immer noch rund 15 Prozent (88 von 558) der bewilligten Anträge aus, der Anteil der übrigen Branchen sei noch nicht ausgewertet, heißt es im Sozialministerium.
Über den hohen Sportleranteil sprechen Ministeriumsvertreter genauso ungern wie über ihre Erwartungen vor Einführung der Karte. Laut "Standard" war das Sozialministerium vor einem Jahr davon ausgegangen, dass mit der "Rot-Weiß-Rot-Karte" 8000 Zuwanderer pro Jahr ins Land kommen würden. Es sei zu früh für eine Evaluierung, sagt jetzt ein Sprecher. Bei der Wirtschaftskammer betont man, es komme nicht auf die Zahlen an, das Instrument sei schon an sich ein Erfolg, weil es sich am Bedarf am Arbeitsmarkt orientiere und ein wichtiges Signal an hochqualifizierte Zuwanderer bedeute: "Ihr seid sehr willkommen in Österreich."
Der Soziologe und Migrationsexperte Kenan Güngör sieht das etwas anders. Österreich sende eher eine zweideutige Botschaft aus, die da laute: "Wir brauchen euch, aber wir wollen euch nicht." Seit Jahren habe Österreich sein Fremdenrecht immer weiter eingeschränkt, sagt Güngör. Auch die "Rot-Weiß-Rot-Karte" habe die Regierung im Rahmen neuer Verschärfungen vorgestellt und dabei die restriktiven Elemente deutlich offensiver beworben. Zudem habe es die Innenministerin für nötig befunden, den Österreichern zu versichern: "Massenzuwanderung muss keiner fürchten." Bei zweideutigen Botschaften aber, so warnt Güngör, sei die negative immer deutlicher zu hören als die positive: "Österreich ist wie ein Vier-Hauben-Restaurant mit schlechter Bedienung."
Über die mangelnde Aufnahmekultur klagen auch Vertreter der Wirtschaft. "Sollte es nicht gelingen, den mancherorts immer noch vorherrschenden sicherheitspolizeilichen Generalverdacht gegen Drittstaatsangehörige aller Herkunftsländer und Qualifikationsstufen zu überwinden", schreibt der Rechtsanwalt Elmar Drabek, Spezialist für Niederlassungsrecht in der Wiener Wirtschaftskanzlei Dorda Brugger Jordis, in einer Analyse des neuen Modells, "wird der ohnehin schwierigen Übung, die Position Österreichs gegenüber klassischen Einwanderungsländern dauerhaft zu verbessern, kein Erfolg beschieden sein." Zudem stünden bei der Deutschpflicht für Angehörige die abverlangten Anstrengungen in keinem Verhältnis zum Nutzen einer Integration. Und die Industriellenvereinigung wünscht sich bessere PR für die "Rot-Weiß-Rot-Karte" - denn das offizielle Online-Informationsportal mit Punkterechner dürfe wohl kaum ausreichen, um Scharen von klugen Köpfen aus fernen Ländern in das kleine Alpenland zu locken.
Stefan Lazarevski glaubt, der bescheidene Andrang auf die "Rot-Weiß-Rot-Karte" habe noch ganz andere Gründe. Das Land habe wenig historische Verbindungen zu Ländern außerhalb Europas, und die Startkosten für Zuzügler aus ärmeren Ländern seien sehr hoch, sagt er. Ausgegrenzt habe er sich hingegen nie gefühlt. Weder auf der Fachhochschule, noch auf dem Tennisplatz, im Fußballstadion oder sonst irgendwo. Er fühle sich in Österreich zu Hause. Genau wie in den USA, wo er das letzte Schuljahr absolvierte oder in seinem Geburtsland Mazedonien. Er könne sich vorstellen, Österreicher zu werden, auch wenn er dafür die mazedonische Staatsbürgerschaft aufgeben müsste. Er sieht sich sowieso nicht als Bürger eines einzelnen Staates, eher als Vertreter einer "internationalen Kultur", so nennt er das. Stefan Lazarevski wäre der perfekte Zuwanderer, wenn er nicht diesen einen Makel hätte: Er wird nicht bleiben. Irgendwann werde es ihn zurückziehen nach Mazedonien, sagt er. Und davor will er noch ein bisschen mehr von der Welt sehen als nur Österreich.