Der Kopf der Regierungspartei Nikola Gruevski mit einer deutschsprachigen Kolumne in Der Hauptstadt Brief.
Mitten in Europa und doch an einer Frontlinie
Mazedonien, im Zentrum des Balkans und seit 25 Jahren unabhängig, ist ein kleines Land mit großen Aufgaben – und mit engen Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland
Von Nikola Gruevski
Nikola Gruevski ist Vorsitzender der Regierungspartei Mazedoniens, der national-konservativen VMRO-DPMNE. Von 2006 bis Januar 2016 war er Ministerpräsident der Republik Mazedonien. Für den HAUPTSTADTBRIEF legt er dar, wie sein Land, das seit 2005 EU-Beitrittskandidat ist, in den 25 Jahren seit seiner Unabhängigkeit vom ehemaligen Jugoslawien daran gearbeitet hat, Vollmitglied zu werden – und wie wichtig die Kooperation Mazedoniens und der EU angesichts der Flüchtlingskrise ist.
Am 8. September 2016 feierten die Bürger Mazedoniens das 25. Jubiläum jenes Tages, an dem sie 1991 beschlossen hatten, das ehemalige Jugoslawien zu verlassen und einen unabhängigen Staat zu gründen. Die Mazedonier haben schon immer die Souveränität ihres Landes angestrebt und dafür gekämpft. Goze Deltschew, ein Nationalheld unseres Landes, der im frühen 20. Jahrhundert für die Befreiung von der osmanischen Herrschaft kämpfte und starb, sagte: „Wir können nicht anderen erlauben, Politik mit Mazedonien zu machen. Dieser Kampf ist für uns eine Sache von Leben und Tod.“
Eine Stadt zwischen gestern und morgen: In Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, lebt mit 530 000 Menschen rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes. Im Bild ein Blick auf die Stadt von der historischen Festung Kale aus, die 1963 von einem Erdbeben zerstört und inzwischen archäologisch erschlossen und teilrestauriert wurde.
Dieser Kampf für einen unabhängigen Staat hat lange gedauert, und er hat tatsächlich zahllose Menschenleben gekostet. Umso höher ist es zu bewerten, dass die Republik Mazedonien sich schließlich friedlich vom ehemaligen Jugoslawien getrennt hat. Es gab Widerstände, es gab Zweifel an unserer Fähigkeit, einen lebensfähigen, unabhängigen Staat auf die Beine zu stellen – aber es gab keinen kriegerischen Konflikt darüber, und wir haben gute nachbarschaftliche Beziehungen bewahrt. Es ist uns auch gelungen, dass der zum Bürgerkrieg zu werden drohende albanische Aufstand von 2001 in einen Waffenstillstand und schließlich in eine Einigung zwischen den Konfliktparteien mündete. Wir haben uns der Aufgabe verschrieben, ein Zusammenleben, das allen gerecht wird, von Mazedoniern, Albanern, Türken, Roma und allen in Mazedonien beheimateten Ethnien zu ermöglichen.
Unser Land hat schwere Zeiten erlebt – nicht zuletzt durch die katastrophalen Folgen von Missmanagement bei der Privatisierung von Staatsbetrieben und unlauteren Machenschaften von Spitzenfunktionären –, aber Mazedonien hat sich dennoch nach vorn entwickelt. Es ist uns gelungen, alle Voraussetzungen für eine NATO-Mitgliedschaft zu erfüllen. Seit 2005 sind wir offiziell Beitrittskandidat der Europäischen Union (EU). Wir haben alle Voraussetzungen dafür erfüllt, dass 2009 die Visafreiheit einsetzen konnte, die es unseren Bürgern ermöglicht, ungehindert innerhalb der EU zu reisen und sich als Teil der europäischen Gemeinschaft zu begreifen.
Mazedonien ist noch eine der schwächsten Volkswirtschaften Europas, aber in den letzten zehn Jahren haben wir bereits deutlich aufgeholt. Im Jahr 2015 ist unser Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 3,7 Prozent gestiegen. Das war eines der besten Ergebnisse in Europa – allen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen zum Trotz. In den Jahren 2007 bis 2015 lag unsere BIP-Wachstumsrate bei durchschnittlich 3 Prozent, was im Vergleich sowohl mit den EU-Mitgliedstaaten wie mit den Ländern unserer Region ein sehr gutes Ergebnis ist. Dieses Wirtschaftswachstum speist sich zu einem beträchtlichen Teil aus privatwirtschaftlichen Investitionen – insbesondere aus dem Ausland.
In den letzten beiden Jahren hat die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) uns als Nummer 1 in Europa eingeordnet, was den Zufluss ausländischer Direktinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung betrifft. Mehrere Faktoren haben diesen Zufluss begünstigt: Etwas, worauf wir besonders stolz sein können, ist das hervorragende Geschäftsklima, das die Weltbank als das zwölftbeste weltweit und das sechstbeste innerhalb Europas einschätzt – direkt hinter den skandinavischen Ländern und Großbritannien. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Weltbank Mazedonien vor zehn Jahren auf den vierundneunzigsten Platz weltweit eingestuft hatte.
Hinzu kommt, dass – wie die Website „Business Insider“ anlässlich des Weltwirtschaftsforums 2015 basierend auf Daten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank veröffentlichte – Mazedonien mit einem Effektivsteuersatz von 7,4 Prozent eines der Länder mit den niedrigsten Steuern weltweit ist. Mazedonien lässt damit Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar hinter sich – denen aufgrund ihrer natürlichen Öl- und Gasreserven günstige Steuersätze doch ungleich leichter fallen.
Mazedonien ist europaweit das Land mit den niedrigsten Geschäftskosten für Unternehmen. Die hohe Arbeitslosigkeit, die eines unserer größten Probleme darstellt, und die trotz Reduzierungserfolgen noch immer bei 24,5 Prozent liegt, bedeutet für Investoren gleichzeitig auch einen Vorteil, denn sie finden einen Pool qualifizierter, verfügbarer Arbeitskräfte vor. Ein weiterer Vorteil für Investoren ist die Stabilität der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Es ist uns gelungen, die Staatsverschuldung moderat zu halten, und wir erkennen den Wert von Innovationen, insbesondere im Bereich der Hochtechnologie, und unterstützen sie. Unsere Exportstruktur entwickelt sich deutlich in Richtung Fortschrittstechnologien. Auch das wird dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit Mazedoniens und seine Stellung auf dem Weltmarkt voranzubringen.
Deutschland ist einer unserer wichtigsten Außenhandelspartner. Mazedonien gehört zu den wenigen Ländern, die eine positive Handelsbilanz mit Deutschland aufweisen können – Resultat von Unternehmensansiedelungen deutscher Firmen, aber auch von Unternehmen aus anderen europäischen Ländern. Rund 1,8 Milliarden Euro aus einem Gesamthandel von über 2,5 Milliarden Euro entfielen 2015 in Mazedonien auf den Export. Zahlreiche deutsche Unternehmen nutzen bereits das gute Wirtschaftsklima und investierten in Mazedonien, unter ihnen beispielsweise die Firma Kostal mit ihrer Automobilelektrik-Sparte und die Firma ODW-Elektrik, die beide 1000 neue Arbeitsplätze schufen, der Bordnetz-Spezialist Kromberg & Schuster, der bereits 2200 Leute beschäftigt, der Automobilzulieferer Dräxlmaier, für den derzeit 5300 Beschäftigte arbeiten, und viele andere mehr.
Es dürfte kaum ein Land geben, das keine Krisen kennt. Mazedonien geriet unglücklicherweise 2015 in eine zweifache tiefgreifende Krise. Zum einen wurde unser Land zu einem „Hotspot“ der Flüchtlingskrise auf der Balkanroute. Zum Zweiten begann die oppositionelle Sozialdemokratische Liga Mazedoniens (SDSM) im Februar 2015 mit der Veröffentlichung von unrechtmäßig erworbenen Telefonmitschnitten, die die Regierungspolitik der von mir geführten konservativen VMRO-DPMNE diskreditierte und blockierte.
Mit der Unterstützung von Freunden aus der internationalen Gemeinschaft und dank der Vermittlung des EU-Nachbarschaftskommissars Johannes Hahn ist es uns im Juni 2015 gelungen, eine Einigung zu erzielen. Wir verständigten uns auf vorgezogene Parlamentswahlen am 24. April 2016, um die Krise hinter uns lassen und zum Reformkurs zurückkehren zu können. Die Bürger Mazedoniens sollten selbst entscheiden, wem sie vertrauen. Die VMRO-DPMNE kam allen damit zusammenhängenden Verpflichtungen nach. Die SDSM aber verweigerte sich der Wahl, die zunächst auf den 5. Juni 2016 verschoben und später wieder hinausgeschoben wurde. Schließlich setzten wir uns erneut mit der SDSM an den Verhandlungstisch, um zur vollen Funktionsfähigkeit der Regierung zurückkehren zu können. Ein neuer Wahltermin ist nun für den 11. Dezember 2016 vereinbart.
Wir machten der Opposition für die Zeit bis zur Wahl erhebliche Zugeständnisse und sind zuversichtlich, dass nunmehr alle, die Mazedonien wohlgesinnt sind, fest hinter diesem Datum stehen und es nicht zulassen werden, dass es zu Behinderungen – und damit zu einer Vertiefung der Krise – kommt. Die Bürger unseres Landes ebenso wie unsere internationalen Partner brauchen ein starkes, stabiles und prosperierendes Mazedonien, das uneingeschränkt in der Lage ist, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen und uns damit in die Lage zu versetzen, zu voller Mitgliedschaft in der EU und in der NATO zu gelangen.
Denn es ist von Bedeutung, dass die EU auf uns zählen kann. Eine der größten Herausforderungen für unsere Region und für Europa, die Flüchtlingskrise, macht das deutlich. Mazedonien ist durch seine geografische Lage an der westlichen Balkanroute stark als Durchgangsstation betroffen. Nachdem diese Route im März 2016 geschlossen wurde, hinderte Mazedonien rund 114 000 Personen daran, illegal aus dem benachbarten Griechenland einzureisen. Wäre dies nicht geschehen, hätte sich der Zahl derer, die sich durch Mazedonien weiter vor allem nach Deutschland in Marsch gesetzt hätten, vermutlich verzehnfacht.
Die mazedonische Polizei hat in der Vergangenheit eng mit den Polizeikräften der EU zusammengearbeitet und wird dies auch weiter tun. Wir werden wie bisher alle Maßnahmen, die wir ergreifen, mit der EU abstimmen. Die Rolle, die uns durch die Flüchtlingskrise zugefallen ist, ist zugegebenermaßen keine leichte. Wir sind ein kleines Land, und die finanziellen und personellen Ressourcen unserer Polizei und Armee sind begrenzt. Dessen ungeachtet messen wir der Sicherheit in unserer Region und in Europa oberste Priorität zu – und das heißt entschlossenes Handeln angesichts der unverhältnismäßig hohen Bedrohung durch eine unkontrollierte Migrationswelle, die unser Land durchquert.
Ein Teil der vor der Schließung der Balkanroute eingereisten Personen hatte falsche Reisedokumente beziehungsweise machten falsche Angaben zu ihrer Person – das erhöhte Risiko der Einschleusung von Terroristen liegt auf der Hand. Nach Schließung der Route kam es in Hunderten von Fällen zu Beschädigungen des Grenzzauns zu Griechenland. Mazedonien fand sich in einer Pufferzone – neben dem Druck auf unsere Grenze im Süden bekamen wir es mit zahllosen Nichtregierungsorganisationen (NGO) zu tun, die sich dafür einsetzten, das der Balkanroute-Korridor offen bleiben sollte. Das ging so weit, dass Migranten dazu aufgefordert und ermutigt wurden, den Zaun zu beschädigen und sich gewaltsam Zugang nach Mazedonien zu verschaffen.
Im Jahr 2015 haben rund 700 000 Menschen unser Land durchquert. Bedenkt man, dass Mazedonien selbst nur etwas über 2 Millionen Einwohner zählt, dann wird deutlich, wie stark unsere menschlichen Kapazitäten ebenso wie unsere Infrastruktur in Anspruch genommen waren bei dem Bemühen, dieser Krise und den Erfordernissen der Migranten gerecht zu werden. Mazedonien steht an einer Frontlinie Europas, und wir sehen uns dem gewachsen, es auch weiterhin zu sein. Unser Hauptaugenmerk liegt dabei auf einer verlässlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der EU – und je schneller wir die politische Krise, die unser Land noch immer lähmt, hinter uns lassen können, desto nachdrücklicher werden wir uns dieser Aufgabe widmen können.