Auf der Autobahnraststätte Kemptthal treffen sich am Wochenende Trucker aus ganz Europa.
Radioca Angelovski mit einem bulgarischen Berufskollegen. Foto: Christian Nilson |
Weder sein Wesen noch seine Erscheinung lassen erahnen, welchen hohen Preis Radoica Angelovski in den letzten 35 Jahren bezahlt hat. Auf der Autobahnraststätte Kemptthal ZH sitzt er auf einem roten Plastikschemel, sein Rücken lehnt an der Stossstange seines Lastwagens. Die Füsse stecken in braunen Plastikfinken, ein wenig verschlafen blinzelt der 64-Jährige in die Frühlingssonne, nippt an seiner Tasse Pulverkaffee.
Radoica Angelovski ist ein Gentleman alter Schule. Er hat keinen weiblichen Besuch erwartet. Leicht peinlich berührt, streicht der Trucker über seine nassen, grau melierten Haare. «Ich komme eben aus der Dusche», sagt er entschuldigend. Seit Anfang Februar ist Angelovski auf Achse und befindet sich an diesem Wochenende auf dem Weg nach Nordspanien. Der Mazedonier war vor anderthalb Monaten letztmals zu Hause – und das ändert sich bis Ende Juni nicht. Nach zwei Sommermonaten bei seiner Familie wird er sich Anfang September wieder ans Steuer setzen und bis Weihnachten unterwegs sein.
«Seit 35 Jahren lebe ich in der kleinen Fahrerkabine, damit meine Liebsten im eigenen Haus wohnen können.» Natürlich fehlen ihm seine Frau, seine drei Kinder und fünf Enkel. «Ich halte es nur ohne sie aus, weil ich weiss, dass sie von meiner jobbedingten Abwesenheit profitieren.» In keiner Fabrik würde er in seiner Heimat als gelernter Schweisser mehr verdienen als hinter dem Steuer seines Lasters.
Zufrieden dank eines emotionalen Arrangements
In den ersten Jahren habe ihn die Sehnsucht nach seiner Familie schier zerrissen. Sein heute noch spürbarer Optimismus half über den Schmerz hinweg. Mit der Zeit kam die Gewohnheit. Sie ebnete den Weg für das emotionale Arrangement, das den Trucker zufrieden an seinen Brummi lehnen lässt.
Angelovski hadert nicht – dafür sei sein Leben zu kurz. «Wir haben es viel weniger langweilig als Buschauffeure. Im Gegensatz zu ihnen fahren wir immer wieder neue Destinationen an und entdecken neue Regionen.» Und ganz ohne seine Familie muss er dank der neusten Technik nicht mehr auskommen. Das Restaurant der Raststätte bietet täglich eine Stunde gratis WLAN-Verbindung. «Das nutzen wir Fahrer, um mit den Menschen zu Hause zu skypen.» Zudem ist sein Sohn in seine Fussstapfen getreten und lenkt seit wenigen Jahren ebenfalls Lastwagen quer durch Europa. Wenn sich ihre Wege kreuzen, stattet er seinem Vater einen Besuch ab, so wie an diesem Samstag: Der LKW des Juniors steht in der Nähe von Luzern, wo ein Freund ihn mit dem Auto abgeholt und nach Kemptthal gebracht hat. «Er brachte mir sechs Einmachgläser voll leckerer Tomatensauce von meiner Frau mit – eine bessere gibt es in ganz Europa nicht.» Grosszügig verschenkt er eines davon an die unerwartete Besucherin.
Trucker sitzen auch am Samstag fest
Angelovski bunkert seinen Proviant hinter der Kabine unter der Ladefläche. Das Raststättenrestaurant kann er sich nicht leisten. «Die Schweiz ist schlicht zu teuer für viele von uns.» Deshalb füllt er seinen kleinen Kühlschrank jeweils in Deutschland, Frankreich oder Spanien. An diesem Sonntagmorgen hat der Trucker Gäste: Zwei ältere Bulgaren leisten ihm beim Frühstück Gesellschaft. Der heruntergeklappte Kühlergrill des Lastwagens dient den Männern als Tisch. Sie kennen einander zwei Tage. «Wir sind alle drei bereits seit Freitagabend hier», sagt Angelovski.
Bis Montagmorgen um 5 Uhr stecken sie auf dem Parkplatz zwischen Zürich und Winterthur fest. Denn bis dahin gelten das Sonntags- und das Nachtfahrverbot für Lastwagen wie ihre Vehikel. Zwar hätten sie am Samstag von Gesetzes wegen noch fahren dürfen. Die Angestellten der Firmen, bei denen sie die Fracht auf- oder abladen, würden aber am Wochenende nicht arbeiten. So können die drei Trucker ihre Ladung erst am Montag holen oder bringen.
Ärger oder Frust darüber ist bei Radoica Angelovski nicht auszumachen. Stattdessen gefällt er sich in der Rolle eines Gentlemans, fackelt nicht lange und sorgt dafür, dass einer seiner bulgarischen Kumpels für die Fremde einen Hocker freigibt.
Im Truck nebenan ist der Fahrer erwacht, er zieht die Vorhänge zurück und lässt den Motor anspringen. Er braucht Strom für seinen Laptop, sein Handy und für seinen Wasserkocher. Mürrisch blickt er aus seinem Fenster. Die Zufriedenheit der drei älteren Lastwagenfahrer scheint ihn zu nerven. «Nein, mir gefällt an meinem Job überhaupt nichts. Ich mache ihn nur des Geldes wegen. Punkt.»
Digitalisierung macht junge Trucker einsam
Angelovski und seine Kumpels tauschen einen vielsagenden Blick aus: «Die Jungen!» Anders als die älteren Semester, die gern gemeinsam einen Schwatz halten und Kaffee trinken, würden die jüngeren Fahrer viel Zeit in ihrer Kabine verbringen und sich mit Filmen oder Computerspielen die Zeit vertreiben. «Schade, denn so vereinsamen die Trucker.» Angelovski selbst kennt dieses Gefühl nicht, er geniesst den Kontakt zu anderen Chauffeuren – egal in welchem Land er gerade unterwegs ist. An diesem Sonntag reiht sich in Kemptthal Lastwagen an Lastwagen. Einige wenige Standplätze längs der A 1 sind noch frei. Martin, ein 36-jähriger Pole, bemitleidet die Kollegen, die dort stehen müssen. Sie sind erst im Laufe des Samstagabends auf der Raststätte eingetroffen und mussten sich mit diesen Parkplätzen begnügen: «So nahe an der Strasse will niemand stehen. Dort findet man keine Ruhe, um zu schlafen.» An diesem Wochenende hatte der Pole Glück im Unglück: Zwar ärgert es ihn, dass er mit seinem Laster schon seit Freitagmittag in Kemptthal steht. Nachdem er seine Fracht abgeladen hatte, fehlte ihm die Adresse, an der er seine nächste Ladung hätte abholen sollen. «Es hiess, die würde erst am Montag klar sein.»
Für den Trucker bedeutet das einen Tag länger ausharren. Er versucht aber, der Situation etwas Positives abzugewinnen: «Dafür habe ich hier einen guten Platz ergattert.» In der Schweiz sei es nicht einfach, überhaupt einen Parkplatz zu finden. «Es hat nicht so viele wie in anderen Ländern. Dafür sind es die besten in ganz Europa.» Denn die Infrastrukturen wie WC oder Duschen seien stets in gutem Zustand.
Polizeipräsenz lässt die Fahrer ruhig schlafen
Zudem ist die Polizei den Truckern willkommen – zumindest auf den Raststätten. «Sie patrouillieren hier öfter als im Ausland, das lässt uns ruhig schlafen.» Anders als etwa in Frankreich – wo gestohlen werde, was nicht niet- und nagelfest sei – bräuchten die Chauffeure hier nicht ständig auf der Hut zu sein. «Ich muss in der Schweiz nicht befürchten, dass mir jemand den Treibstoff klaut», sagt Martin.
Der Pole ist Vater von zwei kleinen Kindern und glücklich, häufiger zu Hause zu sein als andere Fahrer. Er arbeitet jeweils zwei Wochen, um dann sieben Tage mit seiner Familie zu verbringen.
Vor acht Jahren hat Martin das Steuer einer Ambulanz in seiner Heimat gegen das Lenkrad der grossen Trucks getauscht. «Das ist schlicht viel besser bezahlt.» Genauso wie sein älterer Kollege aus Mazedonien will er aber nicht verraten, wie hoch sein Lohn ist. Trotzdem lässt der Pole offen, wie lange er noch als Lastwagenchauffeur durch Europa fahren will.
Für Radoica Angelovski könnte das Leben auf der Strasse hingegen bald zu Ende sein: Er erreicht im Sommer das Pensionsalter und könnte wieder bei seiner Familie Wurzeln schlagen. Trotzdem denkt er darüber nach, weiterzufahren: «Ich bin nicht sicher, ob ich es überhaupt noch längere Zeit an einem Ort aushalte.»