Hat Kanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise ein doppeltes Spiel getrieben? War sie bei allem Pochen auf eine europäische Lösung nicht doch heilfroh, dass Mazedonien und Ungarn mit Zäunen den Andrang der Migranten aufhielten? War ihr die öffentlich angeprangerte Schließung der Balkanroute eigentlich mehr als recht?“ Diese und andere Fragen versucht das Buch „Flucht - Wie der Staat die Kontrolle verlor“ (Molden Verlag) der österreichischen Journalisten Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak zu beantworten.
„Es gab eine stille Zustimmung Deutschlands zur Schließung der Balkanroute. Die deutschen Politiker wünschten, dass wir es tun, aber sie änderten ihr Vokabular nicht“, zitieren die Autoren den damaligen mazedonischen Außenminister Nikola Poposki.
Die “Presse”-Journalisten Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak haben in Wien, Berlin, Brüssel, Ljubljana, Budapest und Skopje mit Ministern, Staatssekretären, Kabinettsmitarbeitern, Sektionschefs, Beamten, Botschaftern, Logistikern, Helfern und Vertretern internationaler Organisationen gesprochen. Aus der Schlüssellochperspektive werden die Ereignisse und Entscheidungsabläufe um die Flüchtlingsbewegungen in Europa beschrieben. Die Autoren erzählen, wie Österreich und andere Staaten aus humanitären Motiven die Kontrolle verloren und danach verzweifelt darum rangen, sie wiederzuerlangen. Laut den Autoren sollen zwei deutsche Minister hinter den Kulissen in Mazedonien für die Grenzschließung geworben haben.
USA intervenierten gegen Schließung der Balkanroute
In ihrem Buch, das sich teilweise wie ein Thriller liest, widmen sich die Journalisten auch der viel zitierten Schließung der sogenannten Balkanroute. Dass vor allem hochrangige US-Politiker massiv gegen die Schließung der Balkanroute opponierten und intervenierten, war bisher so gut wie nicht bekannt. Die USA sahen im März 2016 wegen der Abriegelung der Grenzübergänge zwischen Griechenland und Mazedonien die Stabilität ihres NATO-Verbündeten Griechenland unter der Last der Flüchtlingsmassen in akuter Gefahr. Deutschland reagierte in der Frage gespalten.
Kurz-Plan war riskantes Experiment
Und so hing die Karriere von Außenminister Sebastian Kurz im Frühjahr 2016 an einem seidenen Faden, wie das Autorenkollektiv schreibt. Nicht einmal Kurz’ engster Beraterkreis war damals restlos überzeugt, dass die Schließung der Balkanroute an der mazedonischen Grenze wirklich funktionieren wird. Was sich im Nachhinein für viele als weitsichtige Strategie ausnimmt, war zu Beginn ein riskantes Experiment mit ungewissem Ausgang. Als sich die Lage der Flüchtlinge im griechischen Grenzort Idomeni immer mehr zugespitzt hatte, stand Österreich als Drahtzieher der Grenzschließung international am Pranger.
Diplomat: “Merkel wollte nicht die sein, die Balkanroute schließt”
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel setzte lieber auf das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und kritisierte die Pläne zur Schließung der Westbalkanroute als uneuropäisch. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Innenminister Thomas de Maiziere unterstützten hingegen den Kurs von Kurz und stärkten der mazedonischen Regierung bei der Grenzschließung den Rücken, ergaben die Recherchen der “Presse”-Redakteure. Im Nachhinein glauben viele österreichische Beamte und Politiker, dass Merkel damals ein doppeltes Spiel trieb. “Sie wollten uns nicht stoppen. Sie wollten nur nicht selbst als diejenigen gelten, die schließt”, wird ein hochrangiger Diplomat zitiert.
Slowenien waren Ersten, die Balkanroute schließen wollten
Der heutige ÖVP-Chef Kurz wurde zur Galionsfigur der Grenzschließer, war damals aber keineswegs allein am Werk. Die Slowenen hatten als Erste die Idee, die Grenze bei Mazedonien zu schließen. “Es ist nicht so wichtig, wer sich die Medaille an die Brust heftet, aber wir haben den Prozess gestartet”, erzählt etwa der slowenische Innenstaatssekretär Bostjan Sefic im Buch.
Abkommen zwischen Mazedonien und Türkei zeigte Wirkung
Österreich habe jedoch mit der Einführung der Obergrenze für Asylwerber einen entscheidenden Dominoeffekt ausgelöst. Auch die Ungarn haben zur Schließung der Balkanroute beigetragen. Sie schickten Tausende Rollen Stacheldrahtzaun und – gemeinsam mit Österreich, Slowenien, Kroatien, Slowakei, Tschechien und Polen – Polizisten zur Verstärkung an die mazedonische Grenze. Geschlossen hat die Balkanroute aber vor allem Mazedonien selbst, und auch das Abkommen mit der Türkei hat dazu beigetragen, dass inzwischen weniger Flüchtlinge bis nach Mitteleuropa durchkommen, so das Resümee der Autoren.