Nirgendwo in Europa wird der oft kurzlebige Bund der Ehe so selten geschieden wie in Bosnien-Herzegowina.
An einer glücklichen Ehe vermag der Zahn der Zeit kaum zu nagen. Zärtlich legt Mirza auf seinem Wohnzimmersofa in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo seinen Arm um seine Edina, während er die Geschichte ihrer 52-jährigen Ehe Revue passieren lässt.
„Wir leben wie die Lords – und das jeden Tag“, berichtet der 79-Jährige: „Zwischen uns hat es immer nur echte Liebe gegeben – und das ist auch heute so. Meine Frau hat nie etwas gesagt, was mir nicht gefiel.“ Leicht errötet gibt die weißhaarige Edina die Komplimente zurück: „Mein Mann ist mir heute noch lieber als an unserem ersten Tag.“
Die beiden sind in ihrem Land kein Ausnahmefall: Ausgerechnet das von endlosen Politkrisen heimgesuchte Bosnien-Herzegowina ist erneut das Land mit der niedrigsten Scheidungsrate Europas, wie das Jahrbuch 2011 der Bundesanstalt für Statistik in Österreich aufweist. Spannungsfrei ist das Zusammenleben von muslimischen Bosniaken, Serben und Kroaten in dem Vielvölkerstaat zwar keineswegs. Doch mit lediglich 0,3Scheidungen auf 1000 Einwohner liegt der EU-Anwärter in Sachen gestrandetes Eheglück Welten hinter mitteleuropäischen Staaten wie etwa Österreich (2,36).
Tradition als Ehekitt. Der noch immer an den Folgen des Bürgerkriegs der 1990er-Jahre leidende Staat ist in der Region keine Ausnahme: Ähnlich niedrige Scheidungsraten weisen auch die ex-jugoslawischen „Bruderstaaten“ Mazedonien, Montenegro und, mit Abstrichen, auch Serbien, Kroatien und das EU-Mitglied Slowenien auf.
Die Nachfolgeländer des zerfallenen Jugoslawien zählten zu traditionellen, patriarchalisch geprägten Gemeinschaften, in denen die Ehe und Familie noch immer eine wichtige Rolle spielten, erklärt Drago Vukovic, Soziologieprofessor an der Universität Ost-Sarajewo, die im europäischen Vergleich nach wie vor relativ niedrigen Scheidungsraten in der Region: „Die Ehe ruht noch immer auf der Tradition und der großen emotionalen Anhänglichkeit von Mann, Frau und ihren Kindern. Das ändert sich zwar – aber langsamer als im Westen.“
Tatsächlich weisen die nationalen Statistiken von Bosnien-Herzegowina in den vergangenen Jahren allmählich steigende Scheidungsraten – und eine spürbar sinkende Zahl von Eheschließungen – auf.
Keine Insel der Seligen. Doch der drastische Anstieg der Scheidungsfälle in den ersten acht Jahren nach dem Bosnienkrieg, an dem vor allem Ehen von Partnern unterschiedlicher Ethnien zerbrachen, gehört mittlerweile der Vergangenheit an: Die Folgen der ethnischen Konflikte in Bosnien hätten zwar die gemischten Ehen und Familien als erste zu spüren bekommen, so Vukovic: Andererseits hätten die erlittenen Entbehrungen im gemeinsamen Überlebenskampf viele Familien während des Kriegs auch näher zusammengebracht.
Als eine Insel der Ehe-Seligen im Meer der stets scheidungsfreudiger werdenden Europäer kann man die Staaten des früheren Jugoslawiens dennoch nicht bezeichnen. Außer den Folgen der Globalisierung, die dazu tendiere, alle „Vermittler“ zwischen dem Individuum und der Gesellschaft wegzuwischen, spricht Vukovic auch von „inneren Gründen“ für steigende Scheidungsraten: „Hier ist nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Familie in der Krise. Und in beiden Fällen ist Perspektivlosigkeit allgegenwärtig.“
Auch im Land der Ehe-Europameister seien Familie und Ehe „oft nicht mehr die wichtigsten Institutionen zur Bestätigung der eigenen Persönlichkeit“, konstatiert der Forscher nüchtern: Diese Funktion werde bei Jungen mehr und mehr von der Schule, Kneipe, Discothek, von Organisationen oder Bewegungen übernommen.
Aber dennoch sei dieses Phänomen noch lange nicht so ausgeprägt wie im Westen: „Relativ stabile Ehen und Familiengemeinschaften werden wohl noch lange ein Kennzeichen dieser Region sein.“