Morbide und ein bisschen verstörend ist die Vorstellung, der Mensch könne sich in ein riesiges Insekt verwandeln: Was bei Franz Kafka ein buchstäblicher Gedanke blieb, führt Fotokünstler Oliver Marinkoski direkt vor Augen. Wer kann da wegschauen?
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. "Was ist mit mir geschehen?", dachte er. Es war kein Traum.
Verwandelt in einen ekelerregenden Käfer geht Gregor Samsa 1915 in die Literaturgeschichte ein. Der unglückliche Tuchhändler - er ist ein Produkt der Fantasie des Prager Schriftstellers Franz Kafka. In dessen berühmter Erzählung "Die Verwandlung" erweist sich für Hauptfigur Gregor Samsa nicht nur die Metamorphose in ein riesiges Insekt als blanker Horror - sondern auch die Erkenntnis, wie fragil sein Status als Mitglied in der familiären Gemeinschaft ist. Sein ungewolltes Anderssein wird ihm letztlich zum Verhängnis. Das Untier muss weg. Es ist den Menschen lästig geworden. "Wir alle sind Monster", sagt der mazedonische Fotokünstler Oliver Marinkoski über die Erzählung. "Manche sind gut, manche böse. Aber am gefährlichsten sind die, die sich nicht als solche zeigen."
Das Werk Kafkas hatte großen Einfluss auf die Fotoarbeiten des 34-Jährigen - ebenso wie der Roman "Naked Lunch" (1959), den der Schriftsteller William S. Burroughs Mitte der 1950er Jahre größtenteils im Alkohol- und Drogenrausch verfasste. Zwischen den Seiten wimmelt es nur so vor widerlichen Kreaturen. Und ähnlich halluzinogen wirken auch Marinkoskis Bilder. Der Mensch ist in ihnen nicht mehr Mensch. Er hat sich verwandelt in irgendetwas anderes - zwar immer noch mit Haut und Haaren, aber merkwürdig verformt. Mal zu zahnlosem Obst in der Schale, mal in eine glubschäugige Eistüte. Schwarzer Humor prägt die Kunst des 34-Jährigen mindestens ebenso stark wie das Horrormotiv.
Marinkoski: "Werdet erwachsen!"
"Beide Dinge sind ultimative Voraussetzungen für kreative Freiheit", sagt der Künstler. "Man kann sehr weit gehen, ohne jemanden zu verletzen - mal abgesehen von seinen Gefühlen, aber wenn es so ist, sage ich: Werdet erwachsen!" So einfach ist das. Marinkoski stammt aus Zhilche, einem kleinen Ort 20 Kilometer nordöstlich von Skopje. Drei Ausstellungen hat er in der mazedonischen Hauptstadt bisher gezeigt. Und er weiß, dass seine abseitigen Bilder nicht jedem gefallen. "Ich möchte mich eigentlich nicht selbst mit dem Druck belasten, dass meine Kunst den Leuten zusagen muss", erklärt der Künstler. "Oft macht sie ihnen sogar Angst. Aber ich denke, wenn sie die Bilder mögen, ist es gut - wenn nicht, dann auch."
Angefangen hat Marinkoski mit Bildhauerei. Doch das Material für die Skulpturen ist teuer - und digitale Metamorphosen am Rechner bieten weitaus mehr Spielraum. Seine Ideen, sagt er, kommen ihm häufig im Traum. Aber auch sein Umfeld biete reichlich Stoff für Neues. "Das ist der Balkan, ich habe eine Menge Inspiration hier", scherzt der 34-Jährige - und lässt dabei reichlich Zynismus durchblicken. Zufall ist das nicht: Denn die Lebenswirklichkeit junger Mazedonier ist seit langem geprägt von politischen und gesellschaftlichen Konflikten. Seit dem Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er Jahre und der staatlichen Unabhängigkeit kämpft Mazedonien um Stabilität und die Annäherung an den Westen.
Der Mensch als tote Dekoration
Nicht nur der anhaltende Konflikt mit der albanischen Minderheit, auch der Namensstreit mit Griechenland behindern das Fortkommen im Land. Die Politik bestimmt unwillkürlich auch den Alltag der Menschen - und das seit Jahrzehnten. Entsprechend ambivalent ist Marinkoskis Blick auf die Welt, und die Idee von Menschlichkeit. "Es gibt so viele großartige Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Autoren - gute Leute eben. Und gleichzeitig ist da so viel Niedertracht, so viel Rückständigkeit bei einigen", erklärt er. "Ich mag den Gedanken, dass erstere überwiegen. Die Kunst muss aber ohnehin jenseits von Gut und Böse sein." Oder irgendwo dazwischen: In "St. Lucifer" verstellt ein Heiligenschein dem Teufel den Blick.
Das Plakative kommt nicht von ungefähr: Ursprünglich sollten seine Bilder nur als Videomaterial für Musikclips dienen. Marinkoski ist Mitglied der Hardcore-Band "Nepokor", und spielt Bassgitarre. Das passt natürlich ins Bild: Der Fotokünstler, dessen Arbeit zugleich verschreckt und fasziniert, trägt ausschließlich Schwarz und liebt das Groteske ebenso sehr wie Heavy Metal. Doch Marinkoski passt nicht ganz ins Klischee. Seine Arbeiten haben oft einen philosophischen Kern. "Still Life", eines seiner jüngsten Werke, heißt in Mazedonien МРТВА ПРИРОДА - tote Natur. "Am Leben zu sein und zu leben, das ist nicht das Gleiche", sagt Marinkoski. "Manche Menschen leben sehr lange - aber sie sind in der Welt nichts weiter als tote Dekoration." Der Mensch als Stillleben. Ein ziemlich kafkaesker Gedanke.
Was er wäre, wenn er wie Gregor Samsa eines Morgens als Insekt aufwachen würde? Marinkoski lacht. "Eine Spinne", sagt er. "Das ist zwar kein Insekt, sondern ein Spinnentier - aber als Symbol finde ich sie passend: Sie tötet alle schlechten Insekten und ist überaus kreativ beim Weben ihrer Netze."
QUELLE: NTV