Im Valle Vergeletto wurden menschliche Knochen gefunden. Seither wühlt dieser rätselhafte Fall das Tessin auf. Eine Spurensuche in einer schattigen, wilden Bergregion.
Über diese Brücke musste er gehen: Hier verschwand der mazedonische Schwarzarbeiter für immer im Gehölz. Fotos: Reto Oeschger |
In der zweiten Augustwoche des vergangenen Jahres machte ein Deutschschweizer Wanderer im hintersten Teil des Valle Vergeletto einen seltsamen Fund. Dort, wo seit einem Vierteljahrhundert der Wald sich selbst überlassen wird, lag ein Knochen, der nicht von einem Tier stammte; mutmasslich ein menschlicher Oberschenkel. Der Wanderer markierte die Stelle und meldete den aussergewöhnlichen Fund der Polizei. Wenig später fand eine Pilzsammlerin statt Maronenröhrlinge in der Nähe Teile eines menschlichen Fusses, dann entdeckte jemand ein Stück eines Ellbogens. Drei Wochen später konnten die Knochen identifiziert werden: Sie gehörten Koljo Hadjievski, einem Mazedonier, der von allen nur Nicola genannt wurde, und der oben auf der Alp schwarzarbeitete.
Seither ist im Onsernonetal nichts mehr, wie es war. Alle rätseln, was diesem illegalen Viehhirten zugestossen sein könnte. Die Frage taucht auf beim Feierabendbier in der Bar Piazza, dem einzigen Lokal des Dorfes, sie wurde an der Gemeinderatssitzung traktandiert und befeuert den Schwatz auf der Strasse. Das Buschtelefon, hier Radio Onsernone genannt, läuft heisst. Noch ist nicht mit Sicherheit geklärt, was wirklich mit Hadjievski passiert ist.
Drohnen, Hunde und Taucher im Tal
Im Valle Vergeletto herrscht gegenwärtig noch Winter. An den Felsflanken hängen Eiszapfen, kein Sonnenstrahl hat seit Monaten den schmalen Talboden erreicht. Die wenigen Einwohner, die um diese Jahreszeit draussen zu sehen sind, wollen erst keine Fragen zum ungelösten Kriminalfall beantworten und beginnen dann doch zu erzählen: von den Polizei-Spürhunden, deren Gebell im vergangenen August tagelang im Bosco widerhallte; den Tauchern, die den Ribo abgesucht haben; der Drohne, die über den Weisstannenwäldern sirrte; und der diffusen Angst, da draussen laufe noch ein Mörder herum. Denn obwohl die Polizei bis heute von einem Unfall ausgeht, kann ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen werden. «È un grande mistero», sagen alle. Ein grosses Geheimnis. Sicher ist einzig, dass Nicola am 10. Juli des vergangenen Jahres zum letzten Mal lebend gesehen wurde. Es gibt mehrere Zeugen, die sich mühelos an diesen Tag erinnern können. Denn an diesem Abend wurde Portugal Fussballeuropameister.
Auch Nicola hat sich dieses Fussballspiel am Fernsehen im Ristorante Fondo Valle angeschaut. Die bei Wanderern beliebte Beiz liegt am Ende des Tals. Hier beginnt der Schutzwald. Oben, wo nur noch einzelne Fichten stehen, ist die Alp Arena: drei einfache Hütten aus Tessiner Granit, sieben Stück Tiroler Grauvieh, Ziegen und ein Bettenlager für Wanderer. Diese Alp an der schweizerisch-italienischen Grenze war Nicolas Arbeitsplatz.
Im Winter ist die Zufahrt zu diesem Teil des Tals kaum passierbar. Es gibt keinen Grund, sie zu pfaden. Denn im nahen Granitsteinbruch ruht die Arbeit, das nächste bewohnte Haus liegt drei Kilometer entfernt, und das Ristorante Fondo Valle ist bis zum Frühling geschlossen. Wäre der Ribo, dieses naturbelassene Flüsschen, das bei Gewittern zum reissenden Strom werden kann, nicht unter der dicken Eisschicht zu hören, es wäre still wie in einem Grab.
Hier an diesem verlassenen Ort, wo die Zeit wie eingefroren scheint, lassen sich die letzten Stunden des Mannes, dessen Bein, Fuss und Ellbogen in der Nähe gefunden werden sollten, rekonstruieren.
Nicolas letzter Tag
Der 10. Juli 2016 ist ein heisser, feuchter Tag. In Stabio werden 31 Grad gemessen. Am Morgen sind nur ein paar Wolken am Himmel zu sehen, doch im Laufe des Nachmittags bilden sich hohe Cumuluswolken – ein sicheres Indiz für Gewitter. Doch Nicola, der auf seiner Alp die Wetterumschwünge stets im Auge behält, hat an diesem Sonntag für einmal keinen Blick nach oben übrig. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern weilt in Locarno, um seiner Frau in Mazedonien Geld zu schicken.
Laut einem Bekannten ist er an diesem Tag ausgesprochen verstimmt. Denn sein Arbeitgeber habe ihm nicht den vollen vereinbarten Monatslohn von 2000 Franken ausbezahlt. Trotzdem hat er den weiten Weg hinunter nach Locarno auf sich genommen, um einen Teil seines Geldes in einem Transferbüro nach Hause zu überweisen. Danach nimmt Nicola den Bus 324 für die Rückfahrt, steigt in Russo planmässig um und erreicht in einer guten Stunde Vergeletto.
Ein Freund und Landsmann begleitet ihn. Die beiden beschliessen, im Fondo Valle einzukehren und den EM-Final zu schauen. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass in den neunzig Minuten und der Verlängerung viel Alkohol geflossen sei. Aus dem Umfeld von Nicola hält man dies für ausgeschlossen: Der Viehhirte, studierter Mathematiker, sei kein Trinker gewesen. Und Nicola soll früh klargemacht haben, dass er nach dem Spiel auf seine Alp hinauf wollte. Knapp zwei Stunden muss man dafür einrechnen. Es geht steil bergauf. Als Ronaldo den Pokal in die Höhe stemmt, bricht der Älpler vom Balkan zu seinem nächtlichen Fussmarsch auf.
Laut Satellitenbildern von Meteo Schweiz geht in dieser Region gegen Mitternacht ein heftiges Gewitter nieder. Das Wetter kann in diesen tief eingeschnittenen Tälern von einer Minute zur anderen umschlagen. Das Angebot des Wirts, über Nacht im Ristorante zu bleiben, schlägt Nicola aus. Vor 24 Uhr geht er über die kleine Holzbrücke, die den Ribo kreuzt. Mit Regenschirm, Rucksack und in Turnschuhen.
Ein ausserordentlicher Fall fürs Tessin
«Unfall oder Straftat – wir können und wollen uns auch heute noch nicht festlegen. Alle Richtungen sind offen. Und solange es keine neuen Erkenntnisse gibt, ändern wir daran nichts», sagt der Sprecher von Moreno Capella, leitender Staatsanwalt in dieser Angelegenheit. Die Polizei hat bereits einen grossen Aufwand betrieben. Im Sommer haben die Behörden zehn Tage lang über eine Million Quadratmeter abgesucht – ohne Ergebnis.
Der Fall Vergeletto ist ausserordentlich in der Kriminalgeschichte des Tessins. Es gibt viele Ungereimtheiten und zahlreiche unbeantwortete Fragen: Warum wurden bei der Suche im Wald keine Kleider gefunden? Kein Rucksack, keine Schuhe. Auch der Fundort des Oberschenkelknochens gibt Rätsel auf. Er befindet sich auf der linken Talseite, Nicola war jedoch auf der rechten Seite zur Alp hochgestiegen. Und welche Rolle spielte der Arbeitgeber, der offenbar in einem Konflikt mit seinem Mitarbeiter stand? Nicht nur die Witwe und die Behörden des Onsernone, die ein schlechtes Image fürchten, drängen auf eine Klärung. Jüngst gab es in Bellinzona gar einen parlamentarischen Vorstoss dazu. Der Fall Vergeletto beschäftigt längst den ganzen Kanton.
Zurück über den Ponte Oscuro
Wer das Valle Vergeletto verlassen will, muss sich richtiggehend rauswinden. Sieben Spitzkehren und die schmale Brücke mit dem düsteren Namen Ponte Oscuro müssen bewältigt werden, um ins Haupttal des Onsernone mit seinen 700 Einwohnern zurückzukehren. Links geht es nach Loco, dem Zentrum des Tals, rechts nach Spruga. Dieses Dorf mit einem Dutzend ständig bewohnter Häuser wurde einst schweizweit bekannt als Hippieparadies. In den 70er- und 80er-Jahren emigrierten viele Deutschschweizer auf der Suche nach alternativen Lebensformen in die Abgeschiedenheit des Onsernone.
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Yann Cherix
Leiter Züritipp
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In der zweiten Augustwoche des vergangenen Jahres machte ein Deutschschweizer Wanderer im hintersten Teil des Valle Vergeletto einen seltsamen Fund. Dort, wo seit einem Vierteljahrhundert der Wald sich selbst überlassen wird, lag ein Knochen, der nicht von einem Tier stammte; mutmasslich ein menschlicher Oberschenkel. Der Wanderer markierte die Stelle und meldete den aussergewöhnlichen Fund der Polizei. Wenig später fand eine Pilzsammlerin statt Maronenröhrlinge in der Nähe Teile eines menschlichen Fusses, dann entdeckte jemand ein Stück eines Ellbogens. Drei Wochen später konnten die Knochen identifiziert werden: Sie gehörten Koljo Hadjievski, einem Mazedonier, der von allen nur Nicola genannt wurde, und der oben auf der Alp schwarzarbeitete.
Seither ist im Onsernonetal nichts mehr, wie es war. Alle rätseln, was diesem illegalen Viehhirten zugestossen sein könnte. Die Frage taucht auf beim Feierabendbier in der Bar Piazza, dem einzigen Lokal des Dorfes, sie wurde an der Gemeinderatssitzung traktandiert und befeuert den Schwatz auf der Strasse. Das Buschtelefon, hier Radio Onsernone genannt, läuft heisst. Noch ist nicht mit Sicherheit geklärt, was wirklich mit Hadjievski passiert ist.
Drohnen, Hunde und Taucher im Tal
Im Valle Vergeletto herrscht gegenwärtig noch Winter. An den Felsflanken hängen Eiszapfen, kein Sonnenstrahl hat seit Monaten den schmalen Talboden erreicht. Die wenigen Einwohner, die um diese Jahreszeit draussen zu sehen sind, wollen erst keine Fragen zum ungelösten Kriminalfall beantworten und beginnen dann doch zu erzählen: von den Polizei-Spürhunden, deren Gebell im vergangenen August tagelang im Bosco widerhallte; den Tauchern, die den Ribo abgesucht haben; der Drohne, die über den Weisstannenwäldern sirrte; und der diffusen Angst, da draussen laufe noch ein Mörder herum. Denn obwohl die Polizei bis heute von einem Unfall ausgeht, kann ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen werden. «È un grande mistero», sagen alle. Ein grosses Geheimnis. Sicher ist einzig, dass Nicola am 10. Juli des vergangenen Jahres zum letzten Mal lebend gesehen wurde. Es gibt mehrere Zeugen, die sich mühelos an diesen Tag erinnern können. Denn an diesem Abend wurde Portugal Fussballeuropameister.
Auch Nicola hat sich dieses Fussballspiel am Fernsehen im Ristorante Fondo Valle angeschaut. Die bei Wanderern beliebte Beiz liegt am Ende des Tals. Hier beginnt der Schutzwald. Oben, wo nur noch einzelne Fichten stehen, ist die Alp Arena: drei einfache Hütten aus Tessiner Granit, sieben Stück Tiroler Grauvieh, Ziegen und ein Bettenlager für Wanderer. Diese Alp an der schweizerisch-italienischen Grenze war Nicolas Arbeitsplatz.
Im Winter kaum Sonnenlicht. Und jetzt dieser ungeklärte Fall. Vergeletto erlebt schwierige Zeiten.
Im Winter ist die Zufahrt zu diesem Teil des Tals kaum passierbar. Es gibt keinen Grund, sie zu pfaden. Denn im nahen Granitsteinbruch ruht die Arbeit, das nächste bewohnte Haus liegt drei Kilometer entfernt, und das Ristorante Fondo Valle ist bis zum Frühling geschlossen. Wäre der Ribo, dieses naturbelassene Flüsschen, das bei Gewittern zum reissenden Strom werden kann, nicht unter der dicken Eisschicht zu hören, es wäre still wie in einem Grab.
Hier an diesem verlassenen Ort, wo die Zeit wie eingefroren scheint, lassen sich die letzten Stunden des Mannes, dessen Bein, Fuss und Ellbogen in der Nähe gefunden werden sollten, rekonstruieren.
Nicolas letzter Tag
Der 10. Juli 2016 ist ein heisser, feuchter Tag. In Stabio werden 31 Grad gemessen. Am Morgen sind nur ein paar Wolken am Himmel zu sehen, doch im Laufe des Nachmittags bilden sich hohe Cumuluswolken – ein sicheres Indiz für Gewitter. Doch Nicola, der auf seiner Alp die Wetterumschwünge stets im Auge behält, hat an diesem Sonntag für einmal keinen Blick nach oben übrig. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern weilt in Locarno, um seiner Frau in Mazedonien Geld zu schicken.
Laut einem Bekannten ist er an diesem Tag ausgesprochen verstimmt. Denn sein Arbeitgeber habe ihm nicht den vollen vereinbarten Monatslohn von 2000 Franken ausbezahlt. Trotzdem hat er den weiten Weg hinunter nach Locarno auf sich genommen, um einen Teil seines Geldes in einem Transferbüro nach Hause zu überweisen. Danach nimmt Nicola den Bus 324 für die Rückfahrt, steigt in Russo planmässig um und erreicht in einer guten Stunde Vergeletto.
Das Ristorante Fondo Valle am Ende des Tals war die letzte Station im Leben von Nicola.
Ein Freund und Landsmann begleitet ihn. Die beiden beschliessen, im Fondo Valle einzukehren und den EM-Final zu schauen. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass in den neunzig Minuten und der Verlängerung viel Alkohol geflossen sei. Aus dem Umfeld von Nicola hält man dies für ausgeschlossen: Der Viehhirte, studierter Mathematiker, sei kein Trinker gewesen. Und Nicola soll früh klargemacht haben, dass er nach dem Spiel auf seine Alp hinauf wollte. Knapp zwei Stunden muss man dafür einrechnen. Es geht steil bergauf. Als Ronaldo den Pokal in die Höhe stemmt, bricht der Älpler vom Balkan zu seinem nächtlichen Fussmarsch auf.
Laut Satellitenbildern von Meteo Schweiz geht in dieser Region gegen Mitternacht ein heftiges Gewitter nieder. Das Wetter kann in diesen tief eingeschnittenen Tälern von einer Minute zur anderen umschlagen. Das Angebot des Wirts, über Nacht im Ristorante zu bleiben, schlägt Nicola aus. Vor 24 Uhr geht er über die kleine Holzbrücke, die den Ribo kreuzt. Mit Regenschirm, Rucksack und in Turnschuhen.
Ein ausserordentlicher Fall fürs Tessin
«Unfall oder Straftat – wir können und wollen uns auch heute noch nicht festlegen. Alle Richtungen sind offen. Und solange es keine neuen Erkenntnisse gibt, ändern wir daran nichts», sagt der Sprecher von Moreno Capella, leitender Staatsanwalt in dieser Angelegenheit. Die Polizei hat bereits einen grossen Aufwand betrieben. Im Sommer haben die Behörden zehn Tage lang über eine Million Quadratmeter abgesucht – ohne Ergebnis.
Der Fall Vergeletto ist ausserordentlich in der Kriminalgeschichte des Tessins. Es gibt viele Ungereimtheiten und zahlreiche unbeantwortete Fragen: Warum wurden bei der Suche im Wald keine Kleider gefunden? Kein Rucksack, keine Schuhe. Auch der Fundort des Oberschenkelknochens gibt Rätsel auf. Er befindet sich auf der linken Talseite, Nicola war jedoch auf der rechten Seite zur Alp hochgestiegen. Und welche Rolle spielte der Arbeitgeber, der offenbar in einem Konflikt mit seinem Mitarbeiter stand? Nicht nur die Witwe und die Behörden des Onsernone, die ein schlechtes Image fürchten, drängen auf eine Klärung. Jüngst gab es in Bellinzona gar einen parlamentarischen Vorstoss dazu. Der Fall Vergeletto beschäftigt längst den ganzen Kanton.
Zurück über den Ponte Oscuro
Wer das Valle Vergeletto verlassen will, muss sich richtiggehend rauswinden. Sieben Spitzkehren und die schmale Brücke mit dem düsteren Namen Ponte Oscuro müssen bewältigt werden, um ins Haupttal des Onsernone mit seinen 700 Einwohnern zurückzukehren. Links geht es nach Loco, dem Zentrum des Tals, rechts nach Spruga. Dieses Dorf mit einem Dutzend ständig bewohnter Häuser wurde einst schweizweit bekannt als Hippieparadies. In den 70er- und 80er-Jahren emigrierten viele Deutschschweizer auf der Suche nach alternativen Lebensformen in die Abgeschiedenheit des Onsernone.
Die Einwanderer, nicht wenige von ihnen aus der Zürcher Stadtmitte, betätigten sich als Viehbauern, taten erste zaghafte Schritte als Käser oder versuchten, den einst hier weit verbreiteten Weizen wieder anzubauen. Vom Traum nach einem naturnahen, einfachen Leben ist heute nicht viel mehr übrig geblieben als ein paar zerzauste Tibetfähnlein über zwei Balkonen in Spruga. Die meisten Deutschschweizer, von den Einheimischen «capelloni» – «Langhaarige» – genannt, sind längst wieder abgezogen.
Ein feiner Riss zwischen Einheimischen und «capelloni»
Nur gerade zwei Familien aus dieser Gemeinschaft sind geblieben im Tal, wo jeder urbare Quadratmeter dem Berg mühsam abgerungen werden muss. Sie sind bei den Einheimischen akzeptiert und respektiert – und doch stets die Zuzüger geblieben. Im Onsernone, das wie so viele andere Valli zunehmend entvölkert wird, ist man über jeden Bewohner froh. Hier muss man zusammenhalten.
Und doch ist derzeit ein feiner Riss zwischen den Einheimischen und den ehemaligen «capelloni» auszumachen. Die unterschiedliche Herkunft, die etwas andere Art, sein Vieh über die steilen Weiden zu treiben, die andere Art, sich zu kleiden, sind derzeit wieder öfter Thema. Denn der Alpbetreiber, der Nicola angestellt hatte und vor dessen Verschwinden mit ihm ums Geld stritt, stammt aus einer dieser Hippiefamilien. Wir treffen diesen Tessiner Alpbetreiber mit Deutschschweizer Wurzeln auf der Treppe vor der katholischen Kirche von Russo, einem Nachbardorf von Spruga. Er blinzelt in die Sonne, antwortet eher scheu und achselzuckend: «Angenehm ist es derzeit für mich nicht gerade», sagt der jugendlich wirkende Enddreissiger, «aber ich habe mit Nicolas Verschwinden nichts zu tun.» Die Geste zeigt nicht Gleichgültigkeit über Nicolas Verschwinden, sondern Demut gegenüber Dingen, die man nicht beeinflussen kann.
Bis heute gilt der Alpbetreiber, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, bei einem Teil der Talbewohner als Verdächtiger. Vor allem bei der Witwe des Verstorbenen, die ihn über eine mazedonische Gruppe in Locarno verschiedentlich beschuldigt hatte. Auch wenn die Polizei nach einer intensiven Befragung bald kein Interesse mehr an ihm zeigte und ihm im Dezember eine saftige Busse wegen Schwarzarbeit aufbrummte, ist seine Rolle nicht restlos geklärt.
Da wäre dieser Streit um den Lohn und vor allem der Umstand, dass er Nicola nach seinem Verschwinden nicht als vermisst gemeldet hatte. Sie hätten es gut zusammen gehabt, sagt der Bauer, ohne zu zögern. Mehr will er dazu nicht sagen. Und warum dann keine Meldung, als Nicola auch nach mehreren Tagen nicht auftauchte? Wieder dieses Achselzucken. Der Bauer erzählt von der harten, zeitintensiven Arbeit auf der Alp im Sommer, vom Chrampfen und den Leuten, die kommen und gehen. Nicola sei damals halt einfach mal weg gewesen, sagt er und wechselt dabei mühelos vom örtlichen Dialekt ins Züritüütsch. Vielleicht will man um einen schwarz angestellten Mitarbeiter auch nicht allzu viel Aufhebens machen.Das Treffen mit dem Alpbetreiber zeigt Widersprüchliches, aber nichts wirklich Verdächtiges. Nicolas Arbeitgeber war damals persönlich an der orthodoxen Gedenkfeier beim Steinbruch erschienen. Und er hatte sich auch an der Sammelaktion zugunsten der Witwe beteiligt. Eines zeigt sich klar: Dieser Mann, der als eigensinniger, aber korrekter Chrampfer gilt, taugt nicht zum Bösewicht.
Welche Rolle spielen die Tiere im Wald?
Laut dem Tessiner Staatsanwalt Moreno Capella werden die Ermittlungen erst weiterkommen, wenn neue Leichenteile oder persönliche Gegenstände des Verstorbenen gefunden würden. Die Chance dazu, besonders jetzt im Winter, ist aber klein. Es kann also gut sein, dass das Schicksal von Nicola ungeklärt bleibt. Denkbar ist auch, dass kein Verbrechen zu Nicolas Tod führte. Der Mazedonier könnte in dieser regnerischen Nacht tödlich abgestürzt sein, seine Leiche sich in der heissen und feuchten Umgebung rasch zersetzt haben und von Füchsen aufgefressen worden sein. Für diese These spricht, dass die drei Fundorte der Körperteile weit auseinander liegen. Füchse sind wie Wölfe Aasfresser, schleppen ihre Beute oft kilometerweit weg und zerren sie in ihre Bauten. Überschüssige Nahrung vergraben sie.
Wenn der Winter das Valle Vergeletto also aus seiner Umklammerung befreit, könnte das Rätsel um Nicola vielleicht gelöst werden – mit einem genaueren Blick in die Höhlen der Füchse. Doch die Zeit drängt. In dieser wilden Ecke des Tessins wächst schnell Gras über eine Sache. Mit dem Ginster kommen die Weisstannen und Buchensprösslinge. Und irgendwann ist da nur noch Wald. (Tages-Anzeiger)